Spiritueller Missbrauch


Nicht wenige Betroffene sexualisierter Ausbeutung berichten auch davon, dass ihre Gewalterfahrung in einem umfassenden Kontext religiöser oder sonstiger weltanschaulicher Einflussnahme stattgefunden hat und die damit verbundenen Botschaften auch systematisch genutzt wurden, um die Ausbeutung zu legitimieren und Kinder regelrecht dafür zu "trainieren".


Bei der Frage der Manipulierbarkeit innerhalb bestimmter religiöser Gruppen und Gemeinschaften fällt der massive und von außen oft kaum nachvollziehbare Verlust von Selbstbestimmung auf, dem selbst Erwachsene ausgesetzt sind.


Die katholische Theologin Dr. Barbara Haslbeck beschreibt die Dynamik in ihrem wissenschaftlichen Essay "Kreise, die wie Sekten funktionieren" (Ute Leimgruber, Barbara Haslbeck: Spirituellen Missbrauch verstehen, Patmos 2024, S. 111-127) folgendermaßen:


"Wovon die Frauen erzählen, mag Umstehenden geradezu bizarr vorkommen. Umso wichtiger sind Berichte Betroffener, die erkennbar machen, in welch komplexen Prozessen sich Abhängigkeiten aufbauen und wie die spirituelle Selbstbestimmung der Betroffenen ausgeschaltet wird." (S. 111)


Dass dem nicht leicht zu entkommen ist, wird an späterer Stelle deutlich:


"Die Erfahrungen von Menschen, die spirituellen Missbrauch erlebt haben, ähneln in markanten Aspekten den Erfahrungen von Personen, die in sektenhaften Kontexten unterwegs waren. Insbesondere zeigen sich Parallelen bei der Frage, was die Gruppe anziehend macht und welche Mechanismen wirken, um das Verbleiben der Mitglieder zu fördern bzw. den Ausstieg zu erschweren oder zu verhindern." (S. 112)


Im 4. Kapitel "Bewusstseinskontrolle als zentraler Vorgang - oder: Ist spiritueller Missbrauch Gehirnwäsche?" geht Haslbeck genauer auf die Wirkmechanismen der spirituellen Manipulation ein:


"Es geht um die Frage, wie es sein kann, dass Menschen in sog. Sekten eine Wesensveränderung durchmachen, ihre Einstellung, ihr Verhalten oder ihre Beziehungen von Grund auf verändern und wie fremdgesteuert wirken können - es geht also um das, was landläufig mit Gehirnwäsche bezeichnet wird." (S. 124)


Sie geht auf einige Forschungsergebnisse zu diesem Thema ein und fasst zusammen:


"Was allen gemeinsam ist: Sie stellen damit den zentralen Vorgang heraus, mit dem geschlossene Gruppen auf das Innerste einer Person, ihre Gefühle und Gedanken, zugreifen." (S. 124)


Schließlich stellt sie klar:


"Die Einwirkung auf die eigenen Gefühle und Gedanken geschieht - und das ist spezifisch für spirituellen Missbrauch - durch Konditionierung mit spirituellen Themen. Biblische Zitate und christliche Heilige und Vorbildfiguren spielen eine wichtige Rolle." (S. 125)


Die Zitate aus Haslbecks Aufsatz beziehen sich vorrangig auf Frauen, die im Erwachsenenalter in die jeweiligen Gruppierungen geraten sind. Sie sind in verschiedener Hinsicht aufschlussreich.


Es stellt sich natürlich die Frage: Wenn derartige Mechanismen bereits bei Erwachsenen mit weniger fremdbestimmter Sozialisation so nachhaltig zu wirken imstande sind, wie sehr wird dies erst bei Kindern der Fall sein, die in dem entsprechenden Umfeld aufwachsen und bereits im frühesten Alter alles andere als ein selbstbestimmtes Denken und Fühlen vermittelt bekommen? Hier liegt die Gefahr, zum Opfer von Ausbeutung jeglicher Art zu werden (insbesondere auch sexualisierter), besonders nahe. Und dies gilt keineswegs allein oder besonders für den katholischen oder in sonstiger Weise christlichen Kontext, sondern für jedes ideologische, weltanschauliche oder religiöse System.


Spiritueller Missbrauch kann darüber hinaus auch mit sexualisierter Ausbeutung einhergehen, von systematischer Natur sein und deutliche Vernetzungsstrukturen aufweisen, wie neuere Erkenntnisse belegen:


"In den bayerischen Bistümern Augsburg und München-Freising beschreiben ehemalige Heimkinder ein Netzwerk aus Dorfpfarrer, Patres und Nonnen (Niederbronner Schwestern) sowie Tatorten in München, Feldafing, Oberammergau und Kloster Ettal. In Speyer gibt es Hinweise auf ein ähnliches Netzwerk, die Opfer waren demnach ebenfalls Zöglinge der Niederbronner Schwestern. Ein Betroffener aus dem Erzbistum Paderborn schildert eine typische Situation für eine „Tatbegehung“: „Der Mitbruder wird zum Besuch im Ferienlager oder zur Messdienerfreizeit eingeladen, und da kann er sich dann ‚bedienen‘.“ Und im Erzbistum Köln gibt es Anhaltspunkte, dass Täter-Priester untereinander beichten und sich gegenseitig die Absolution erteilen.

Trotz zahlloser Indizien sind Täternetzwerke hierzulande kaum nachgewiesen. Was auch daran liegt, dass die Kirchen die Aufarbeitung des Missbrauchs selbst organisieren. Sie beauftragen Juristen, Historiker oder Soziologen, hüten in ihren Archiven aber auch das Belastungsmaterial.


Missbrauch in der Kirche: Täter, Vertuscher, Mitwisser und Helfer

In anderen Ländern, etwa Irland, Kanada und Australien, setzten Parlamente unabhängige Kommissionen mit robusten Vollmachten ein. Aus Australien stammt dann auch ein Forschungsansatz, in den der Aachener Soziologie-Professor Thomas Kron einige Erwartungen setzt. Dort wurden die Methoden der sozialen Netzwerkanalyse (SNA, Social Network Analysis) auf den Missbrauchskomplex angewendet. Daten aus Ermittlungen, Interviews und Anhörungen werden mit Software-Unterstützung zu Geflechten verdichtet: Täter, Vertuscher, Mitwisser, freiwillige und unfreiwillige Helfer."


Quelle: "Missbrauch in der Kirche - wie Täter ihre Opfer an andere Priester weiterreichen" auf wa.de vom 04.09.2025