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Im Wald


das Kind läuft
um sein Leben
nackt
Dunkelheit
dichter Wald
es hört seinen Atem
Panik
laufen
nicht schreien
Todesangst
laufen
sie sind dicht hinter ihm
das Kind kann sie hören
es spürt fast schon den Atem im Nacken
hört die Hunde bellen
Stimmen, die näher kommen
laufen
Äste, die unter den nackten Füßen zerbrechen
die Füße brennen
der Körper auch
trockenes Laub, feuchte Stellen
nicht wissen wohin man tritt
hinfallen
Tränen
kein Schutz
aufstehen
niemand hilft
weiter laufen
Äste, die Spuren im Gesicht hinterlassen
so dunkel
hinfallen
sie kommen
aussichtslos
die Hunde dürfen zuerst
dann die Männer
das Kind wird nie mehr laufen

 


Die Kiste


Die Kiste im Wald.
Eingegraben im Boden.
Der Deckel ist zu, Erde darüber.
Viel Erde.
Zu sich kommen, langsam,
schmerzhaft.
Dunkelheit, tief schwarz.
Der Geruch von Erde.
Getier, das um uns herum krabbelt.
Eingenässt.
Ekel.
Erstarren.
Angst.
Schreien, um sich schlagen.
Die Seele bricht noch nicht…
Atmen, irgendwie.
Wie lange?
Endlos.
Schlimm?
Das erste Mal, ja.
Todesangst.
Aufgeben.
Das nächste Mal hat das Kind gelernt.
In der Kiste passiert mir nichts.
In der Kiste bleiben, bitte, lieber Gott, in der Kiste bleiben dürfen.
Schlimm wird es, wenn sie die Kiste wieder öffnen.
Irgendwann.
Nach Ewigkeiten.
Wenn die Hoffnung da ist, dass nichts passiert. Diesmal nicht.
Dann fängt das Grauen an.
Spatengeräusche.
Der Deckel hebt sich.
In uns schreit es.
Die Seele bricht.
Wieder einmal…


 
Im Wasser


Kalt.
Ganz kalt.
Das Kind steht im Wasser.
Bis zum Mund.
Noch ganz benommen.
Die Elektroschocks waren heftig.
Davon weiß es nichts,
aber das Gefühl danach kennt es.
Es weiß nicht, wie es hier her gekommen ist.
Es weiß nicht, dass vorher einer von den anderen gequält wurde.
Es gibt nur jetzt und Dunkelheit.
Alles tut weh.
Kaltes Wasser.
Dunkelheit.
Kälte.
Allein.
Nicht wissend, warum es bestraft wird.
Stehen bleiben, nur nicht hinfallen.
Nicht denken.
Nicht daran denken, dass der Wassertank eingegraben ist.
Nicht daran denken, dass die schmale Öffnung oben unerreichbar ist.
Das Kind kann nur noch denken, dass es tot sein will.
Lieber tot als …
Stumme Schreie.
Niemand hilft.
Niemand ahnt etwas.
Ein Geräusch.
Hoffnung.
Der Deckel hebt sich.
Stimmen, Lachen.
Wenn du nicht lieb bist, kommt die Schlange…
Und dann kommt die Schlange …..
Etwas in dem Kind zerbricht.

 



 Vielesein – ein Beispiel


 Meine Angst hat einen Namen…Sina.
 Meine Wut heißt Thomas, ist 20 und unberechenbar.
 Martha ist 16 und die, die Männer verbraucht wie Taschentücher, wenn man sie ließe.
 Hannes ist schwul, in der Pubertät und verhält sich so.
 Dana ist 21, liebt Highheels, Make up, Handtaschen und Shopping.
 Hedda liebt Motorräder, Lederklamotten und steht auf Frauen.
 Lisa ist 15 und suizidal. Sie bringt sich den halben Tag lang um, wenn man sie ließe.
 Meine Lebensfreude heißt Felix, ist gerade mal 6 Jahre alt und will unbedingt zur Schule.
 Es ist wie ein Haus mit vielen, vielen Zimmern. Die Türen geschlossen.
 Manchmal kann man unter den Türen durch etwas spüren voneinander.
 Die anderen geschätzt vielleicht hundert Persönlichkeiten ?
 Das, was in mir tot ist, hat keinen Namen.
 Das, was jeden Tag immer noch in mir abstirbt, auch nicht.
 Das, was in mir schreit, ist für mich unerreichbar.
 Zu den meisten habe ich keinerlei Kontakt, die anderen kenne ich nur aus dem Tagebuch.
 Wenn „ich“ nicht da bin, weiß ich nicht, was jemand anders gerade macht.
 Wo bin ich, wer bin ich, wenn ich Zeit verliere?
 Der Körper selbst ist weiblich, bereits älter als 40 und hat sich zum Sterben in die Ecke gelegt.
 Wie soll man das jemals wieder „ganz“ bekommen?


Sinalebt