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Zuhören statt Wegsehen

 

Ein Beitrag von Claudia Fischer

 

Skepsis ist mein Beruf. Hinterfragen, den gesunden Menschenverstand einschalten, bei allem, was mir erzählt wird. Anzweifeln, Zurückfragen, und mindestens zwei Quellen für eine Information recherchieren, bevor ich diese weitergebe und veröffentliche. So habe ich es als Journalistin gelernt. Und dann begegneten mir Opfer von ritueller Gewalt.

So extrem und außerhalb unserer behüteten Realität sind die Berichte dieser Betroffenen, dass ein gesunder Menschenverstand es kaum fassen kann. Ist es möglich, dass in Kellern und hinter den Fassaden unserer Nachbarhäuser so grausame Dinge geschehen? Kann es menschliche Gehirne geben, die sich solche Foltermethoden ausdenken und sich nicht scheuen, sie in die Tat umzusetzen? Können die Täter jahrzehntelang unerkannt bleiben? Ohne dass einer petzt, die anderen verrät oder sich irgendwann aus Versehen verplappert? Über Generationen? Können Menschen (meist Kinder!) diese extreme Gewalt, von der berichtet wird, überhaupt überleben? Viele skeptische Fragen, die automatisch kommen, wenn man die Berichte liest oder hört.

Die Berichte und die Skepsis begleiten mich seit 2002. Immer wieder kommt mein Vorstellungsvermögen an seine Grenzen. Immer wieder stelle ich mir die obigen Fragen. Und immer wieder komme ich zu der gleichen Antwort: Ja, all das kann sein. Zumindest konnte ich trotz intensiver Fallrecherchen zu mehreren Betroffenen bislang keiner einzigen das Gegenteil beweisen.

Nehmen wir Anna (alle Namen geändert): Sie sagte aus, in einem bestimmten Jahr habe sie jemanden ermorden müssen. Nach meiner Recherche in Stadt- und Gemeindearchiven verschwindet diese Person, von der sie berichtet, tatsächlich zu diesem Zeitpunkt aus den öffentlich zugänglichen Adressverzeichnissen. Die Polizei gab später an, einen offiziellen Totenschein gebe es nicht, nur einen Arztbrief und ein Grab. Also bleibt Annas Geschichte unwiderlegt.

Nehmen wir Beatrix: „Es war eine Vollmondnacht im Juni, am nächsten Morgen hatten wir Englisch in der ersten Stunde und zwei Tage später Ferien…“ In den verstaubten Klassenbüchern aus den siebziger Jahren im Keller ihrer Schule sind diese Aussagen nachvollziehbar. Und die Traumaforschung bestätigt: Kleinste Details, auch vom Randgeschehen einer traumatischen Situation, werden auch Jahre später exakt erinnert, während „normale“ Ereignisse wie die Reihenfolge von Schulstunden normalerweise natürlich verblassen würden.

Oder nehmen wir die Wewelsburg bei Paderborn: Die Kreisverwaltung als Besitzer der Burg versichert uns mehrfach, ein ausgefeiltes Sicherheitssystem zeichne jedes Öffnen und Schließen aller Fenster und Türen auf. Niemand könne sich so unbemerkt in die Burg schleichen, die häufig in den Berichten von Betroffenen genannt wird. Wir einigen uns auf eine Fernseh-Berichterstattung über das Schließsystem und dürfen jedes Detail zeigen. Magnetschließer an Fenstern und Türen, lange Druckfahnen, die alle Bewegungen registrieren, alles sehr überzeugend! Bis wir am Ende des langen Drehtages zufällig darauf stoßen, dass ausgerechnet die entscheidenden Kulträume der Burg gar nicht an besagtes Alarmsystem angeschlossen sind. „Wieso denn auch, die sind doch leer, da kann doch keiner was klauen“, erklärt mir der Interviewpartner voller Überzeugung, es gäbe kein Problem. Ich bin fassungslos. Manchmal kann man gar nicht so absurd denken, wie die Realität wirklich ist!

Dies sind nur einige Beispiele aus unzähligen Recherchestunden. So etwas beweist die Taten natürlich nicht, aber es untermauert die Glaubhaftigkeit der Berichte. Immer wieder stelle ich fest: Sie halten meiner Skepsis stand, wo immer ich sie überprüfen kann. Oder Dinge sind nicht überprüfbar oder abschließend zu klären. Je tiefer ich einsteige, desto mehr zeigt sich: Fast immer bleiben entscheidende Fragen offen.

Wohl deswegen stehen auch Polizei und Ermittlungsbehörden den Berichten ritueller Gewalt sehr skeptisch gegenüber. Als ich 2004 beim Landeskriminalamt NRW angerufen habe, um nachzufragen, wie viele Straftaten mit satanistischem Hintergrund es gebe, hieß es aus der Pressestelle: „Keine.“ „Das kann doch nicht sein“, habe ich geantwortet, „zumindest hatten wir doch das Ehepaar Ruda, das 2001 in Witten/NRW einen Bekannten ermordet hat und behauptete, sie wären nur Satans Befehl gefolgt.“ – „Ach so, das meinen Sie, das waren doch keine Satanisten, das waren doch Spinner“, sagte der Mann vom LKA. So ist das eben – Satanismus wird von der Polizei statistisch nicht erfasst. Nicht ernst genommen. Und deswegen gibt es ihn nicht? Zumindest nicht im öffentlichen Bewusstsein und nicht in den Gehirnen der Ermittler. Skepsis ist auch gegen diese blinden Flecken angebracht.

Unter Fachleuten keimt immer wieder die Hoffnung auf: „Wenn wir erst mal den einen bewiesenen Fall, den einen verurteilten Straftäter in dieser Art von Gewaltverbrechen haben, dann wird allen geglaubt, dann wird alles gut.“ Aber haben wir diese Beweise, diese Täterinnen und Täter, diese Urteile nicht längst?

Doch, eigentlich schon: Der Fall Dutroux beweist, dass es möglich ist, Täter-Kreisen Kinder zuzuführen und als Einzeltäter verurteilt zu werden, ohne dass die anderen Beteiligten auch nur namentlich bekannt werden. Und dass es möglich ist, dass im Laufe eines weltweit Aufsehen erregenden Prozesses Dutzende Zeugen und Beteiligte nach und nach verunglücken oder mysteriös sterben, so dass vorhandene Spuren im Sande verlaufen. Die Kellerverliese von Josef Fritzl und Wolfgang Priklopil, der Natascha Kampusch entführt hat, sowie die im Frühjahr 2013 entdeckten drei Frauen in Cleveland, die in einem Haus mitten in einer Nachbarschaft über Jahre gefangen gehalten wurden, beweisen, dass niemand mitbekommen muss, wenn nebenan grausamstes Unrecht geschieht. Und dass Menschen ihre Machtphantasien vor unseren Augen in die Tat umsetzen können. Snuff-Videos, in denen Menschen zu Tode gefoltert werden und Bilder von gequälten und misshandelten Kindern, die weltweit gehandelt und zu Tausenden und Abertausenden von der Polizei ausgewertet werden, beweisen, dass es diese Taten gibt und dass es Menschen gibt, die viel Geld dafür bezahlen, ihren Hunger danach zu stillen. Jeder Fund solcher Bilder auf den Computern von Priestern, Polizisten, Politikern, Jugendamtsmitarbeitern usw. beweist, dass keine Berufsgruppe und keine gesellschaftliche Schicht gegen Konsumenten und Mittäter dieser Folterbilder gefeit ist.

Wie viele Belege brauchen wir noch, bevor wir uns zumindest eingestehen können, dass es das geben kann?

So sollten wir unseren Zweifel fairerweise auch auf die andere Seite richten: Wie glaubhaft und nachvollziehbar ist eine kategorische Abwehrhaltung? Gibt es mehr Argumente als „Das kann doch alles nicht wahr sein!“? So lange Menschen lieber wegsehen, statt wenigstens erst mal genau hinzuhören, sind die Täter geschützt und die Betroffenen allein.

 

 

Claudia Fischer 

Claudia Fischer arbeitet als freie Journalistin und Medienpädagogin in Bielefeld. Seit 2001 recherchiert und berichtet sie über rituellen Missbrauch, extreme sadistische Gewalt und ihre Folgen, überwiegend im Auftrag des WDR-Studios Bielefeld mit Beiträgen in Radio, Fernsehen und Internet. Seit 2016 engagiert sie sich zudem für das  Infoportal Rituelle Gewalt .

http://www.verstandenwerden.de